Magdeburg in den Medien

Wie spekulative „Nachrichten“ sich in „Leitmedien“ widerspiegeln

X-Account des mutmaßlichen Täters. Screenshot by netznomaden/boldtpublishing.com

Ein Mann fährt am Freitag, 20. Dezember 2024, in Magdeburg in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt. Eine schreckliche Tat, deren Hintergründe nun ermittelt werden müssen. Der Andrang der Reporter ist naturgemäß groß. Doch sie liefern keine Nachrichten. Der Begriff „Nachrichten“ leitet sich ab von: „sich danach richten“. Nachrichten sollten nach dem Pressekodex neutral und möglichst nicht subjektiv gefärbt sein, dem Leser oder Zuschauer nützen und sich in Summe nach und nach in Wissen verwandeln.

Vor allem TV-Reporter machen in der Regel das Gegenteil. Sie liefern subjektiv gefärbte Eindrücke ohne wirklichen Wert, die man auch im heimischen Studio produzieren könnte. Die Wahrheit ist immer subjektiv. Aber eine subjektive Wahrheit kann beim Betrachter nicht entstehen, wenn schon die Nachrichten subjektiv und ohne Informationswert sind.

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Die Magdeburger Polizei postet um 21:37 Uhr auf X/Twitter: „#Magdeburg Wir haben eine Mediensammelstelle auf dem Karstadt-Parkplatz eingerichtet.“

Auf dem Marktplatz sollen natürlich keine Medien eingesammelt werden. Die Horde sensationslustiger Reporter und Kameraleute soll sich dort versammeln, um den „Sicherheitskräften“ nicht im Weg rumzustehen. Die Kameras stehen deshalb weitab vom eigentlichen Tatort. Und die Reporter auch. In den 1970-er Jahren drehte ein bekannter „Korrespondent“ des Süddeutschen Rundfunks seine Kriegsberichterstattung konsequent „vor Ort“: vor einer Stahltür im Keller des Stuttgarter TV-Studios. Es hat den Berichten inhaltlich nicht wirklich geschadet.

Wissen ist Macht – Nichtwissen macht nichts …

heute journal spezial vom 21.12.2024. Screenshot: boldtpublishing.com

Im ZDF heute journal spezial am Tattag spekulieren Moderatorin Dunja Hayali und der Korrespondent vor Ort, Hagen Mikolas, über den Hergang der Tat und den mutmaßlichen Täter. Schnell wird klar, dass der Korrespondent nicht mehr weiß, als die Moderatorin und die Fernsehzuschauer, die sich in den Nachrichtenportalen oder Sozialen Medien informiert haben. Die Moderatorin schaltet deshalb einen „Extremismus-und Terrorismus-Experten“ zu: Hans-Jakob Schindler vom „Counter Expremism Project„.

Hayali: „Das weckt natürlich auch Erinnerungen an den Anschlag vom Breitscheidplatz gestern vor 8 Jahren“.

Schindler: „Was die Hintergründe des Anschlages betrifft, wissen wir tatsächlich im Moment noch gar nichts. Außer dass der Täter in Haft ist.“

Hier könnte die Schalte zu Ende sein. Aber natürlich bohrt Hayali bei dem Experten, der „noch gar nichts“ weiß, weiter.

Schindler ist „überrascht“, (…) „dass so was überhaupt noch heutzutage in einer Großstadt bei einem großen, gut besuchten Weihnachtsmarkt möglich ist.“

Jeder weiß, dass es keinen 100-prozentigen Schutz gegen Anschläge geben kann.

Andere dichten den Magdeburgern bereits den „Ausnahmezustand“ an: „Auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt herrscht derzeit Ausnahmezustand. Die Behörden gehen von einem Anschlag aus.“ Immerhin: „Vieles ist noch unklar.“

23:40 Uhr: Die Magdeburger Polizei twittert: „Bei der tatverdächtigen Person soll es sich um einen 50-jährigen Mann aus Saudi-Arabien handeln. Der Mann wurde unmittelbar am Tatort gestellt und vorläufig festgenommen. Wir gehen momentan von einem Einzeltäter aus.“

Am Tag danach. Der Deutschlandfunk bringt (nicht als erstes Medium) die AfD ins Spiel:

Gestern Abend war ein Mann mit seinem Fahrzeug auf den Weihnachtsmarkt gerast. Laut Augenzeugen soll er über 400 Meter gezielt durch die Menschenmenge gefahren sein. Bei dem Tatverdächtigen handelt es sich um einen 50-jährigen Arzt aus Saudi-Arabien, der seit 2006 in Deutschland lebt. Mehrere Medien berichten, der Mann sei ein radikaler Islamgegner und Sympathisant der AfD. Über sein Motiv ist noch nichts bekannt. Der Grünen-Politiker von Notz warnte im Deutschlandfunk vor voreiligen Schlussfolgerungen. Er betonte, wichtig sei jetzt, dass die Sicherheitskonzepte überprüft würden.“

„Sicherheitskonzepte überprüfen“ heißt im Klartext meistens: Schärfere Gesetze. Die helfen jedoch nicht gegen Anschläge durchgeknallter Extremisten oder tatsächlicher „Terroristen“. Übrigens ist im Rundfunk auch die Expertenmeinung zu hören, die Magdeburger Tat könnte ein False Flag“-Act“ gewesen sein. Unter dieser Bezeichnung fallen von Geheimdiensten verübte angebliche „Terroranschläge“, um die Stimmung im Wahlvolk ein bisschen anzuheizen. Schärfere Gesetze helfen, die Überwachung auszubauen, bis das ganze Leben, vom Baby bis zum Greis, unter Kontrolle des „Wertewestens“ ist. Orwell eben.

Der Kölner Express“ (unter Kennern: „Exzess“) mischt gerne mit: „Zahl der Toten steigt auf 5, darunter Kleinkind ++ Über 200 Verletzte, viele schwer ++ Kanzler: ‚wahnsinnige Tat'“. Das ist noch relativ sachlich.

Die Suche nach dem Motiv

Der Deutschlandfunk berichtet am Samstag nach der Tat relativ nüchtern:

Am Freitagabend raste ein Auto auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg und erfasste zahlreiche Menschen. Der Fahrer fuhr rund 400 Meter durch die dicht besuchte Marktfläche, bevor er gestoppt wurde. (…) Nach Angaben von Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff wurden dabei fünf Menschen getötet. Mindestens 200 Menschen wurden verletzt, viele von ihnen schweben noch in Lebensgefahr. Rettungskräfte und Feuerwehr waren mit einem Großaufgebot im Einsatz. Die Polizei nahm den mutmaßlichen Täter unmittelbar nach der Tat fest.“

Laut Deutschlandfunk-Landeskorrespondent Niklas Otterbach hat die Stadt „schon vor Jahren um den Weihnachtsmarkt Betonpoller errichtet. Allerdings gebe es Öffnungen für die Straßenbahn. Der Extremismus- und Terrorismusexperte, Schindler, geht davon aus, dass es in Magdeburg einen Fehler im Sicherheitskonzept gegeben hat. Er sagte im Deutschlandfunk (audio-link), das Einfahren von Fahrzeugen auf Weihnachtsmärkte sei seit dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheid-Platz 2016 ein bekanntes Szenario.“

DER SPIEGEL: Sagen, was ist. Oder was sein könnte.

Um 10:20 Uhr meldet der SPIEGEL im Rahmen einer Live-Berichterstattung:

Der Fahrer des Autos wurde nach der Todesfahrt festgenommen. Es handelt sich um den 50-jährigen Taleb A., einen Arzt aus dem nahen Bernburg. Er wurde in Saudi-Arabien geboren und kam 2006 erstmals nach Deutschland. Die saudische Monarchie soll deutsche Sicherheitsbehörden nach SPIEGEL-Informationen dreimal vor Taleb A. gewarnt haben.

Die Polizei hat derzeit keine Hinweise auf Mittäter. Nach Informationen aus Sicherheitskreisen ist der Tatverdächtige nicht als Islamist bekannt. Er tritt im Internet als Ex-Muslim und Islamgegner auf. Die Hintergründe zu dem Vorfall sind bislang völlig unklar – genau wie das mögliche Motiv.“

Natürlich weiß das ehemalige Nachrichtenmagazin mehr:

  • „SPIEGEL-Recherchen haben ergeben, dass Taleb A. im Netz offen mit der AfD sympathisierte. Lesen Sie hier mehr dazu. 
  • Wie ein Polizist und ein freiwilliger Helfer den Horror in Magdeburg erlebt haben, erfahren Sie im Text unseres Reporters vor Ort. 
  • Die Entwicklungen am Tattag können Sie hier noch einmal nachlesen.“


Der mutmaßliche Täter – X weiß wirklich mehr

Auf der Plattform X hat ein gewisser „Fahed“ schon am Tattag gegen Mitternacht die vermeintliche Lösung parat:

Apparently this is the guy responsible of the Magdeburg attack in Germany today..

Screenshot: boldtpublishing.com

Fahed outet sich selbst als „shawarma extremist, secularists hater, anti shia, animephobe“. Shawarma ist übrigens ein Äqivalent zu Giros oder Döner, keine politische Sekte.

Später meldet der DLF: „Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur gab es vor rund einem Jahr eine Art Warnhinweis aus Riad. Saudi-Arabien habe zudem die Auslieferung des Mannes beantragt, die deutschen Behörden hätten darauf aber nicht reagiert. Der 50-Jährige Tatverdächtige stammt aus Saudi-Arabien und kam 2006 nach Deutschland. Er soll zuletzt als Facharzt für Psychiatrie in einer Klinik in Bernburg in Sachsen-Anhalt gearbeitet haben. Sein Motiv ist unklar. In sozialen Medien und Interviews erhob er zuletzt teils wirr formulierte Vorwürfe gegen deutsche Behörden. Er hielt ihnen unter anderem vor, nicht genügend gegen Islamismus zu unternehmen. Innenministerin Faeser erklärte, der Täter habe eine offensichtlich islamfeindliche Einstellung.“

Die „wirr formulierten Vorwürfe“ werden natürlich nicht ausgeführt. Dabei wird sein Motiv weniger schleierhaft, liest man seine Ausführungen auf X. Fahed zieht den nicht unbedingt abwegigen Schluss:

„I love how all the anti Islam pages have gone silent about the attack when they realized he is a Zionist atheist who hates Islam.“

BILD schreibt am Samstag: „Ein saudi-arabischer Arzt für Psychiatrie fährt mit einem Auto in die fröhliche Menge. Fünf Menschen sterben, mehr als 200 sind verletzt. Doch wer ist der Mann? Alle Details aus der Asyl-Akte von Todesfahrer Taleb A. – nur mit BILDplus.

Screenshot

BILD meint: „Auf seinem Account bei X teilte der Arzt vor der Tat Hunderte befremdliche Beiträge. A. behauptete, es würde eine Verschwörung der deutschen Behörden gegen saudische Flüchtlinge geben. Auch von geheimen Operationen ist die Rede. Meistens geht es um Hass gegen den Islam. Und um Rache dafür, dass Deutschland, wie er behauptete, Europa islamisieren wolle.

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Die Politik tritt auf den Plan

Wo Kameras sind, sind Politiker nicht weit. Dass der Kanzler und die Innenministerin den Tatort besichtigen und am Gedenkgottesdienst teilnehmen – geschenkt.

„Der mutmaßliche Anschlag hat tiefgreifende Bestürzung und Anteilnahme ausgelöst. Bundeskanzler Scholz reiste zusammen mit Innenministerin Faeser und Umweltministerin Lemke nach Magdeburg. Auch der CDU-Vorsitzende Merz ist vor Ort. Sie besuchten gemeinsam mit Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff den Tatort. An der Magdeburger Johanniskirche gedachten sie der Opfer und legten Blumen nieder. (Deutschlandfunk)

Aber auch Abgeordnete, die normalerweise vernünftige Ansichten verbreiten, schüren schnell die Angst. Hasnain Kazim, früher beim SPIEGEL und heute Buchautor in Wien, postet auf X:

Dass auch die Geschehnisse in Syrien dazu genutzt werden, Wahlkrampf und Islamophobie zu betreiben, ist klar. Spekulationen statt Informationen. Aber das ist eine andere Geschichte …

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