Landschaft in Äthiopien. Foto: KLAUS BOLDT, boldt publishing

Prüde, aber kriegsgeil


Zitat von Wilhelm Reich aus: Die Massenpsychologie des Faschismus, Kiepenheuer & Witsch Verlag.

Ende der 1970er-Jahre, eine Demo von Hausbesetzern in Freiburg. Ich reihe mich ein, ohne zu wissen, was die Organisatoren genau vorhaben. 20.000 Menschen, vor, hinter, neben mir. Eine Kreuzung wird lahmgelegt, der Verkehr steht, ganze Straßenzüge werden von Bereitschaftspolizisten mit Stacheldraht umzäunt, Wasserwerfer, hochgerüstete „Bullen“ mit Helm, Schild, Knüppeln und Pistolen. Steine fliegen. Ein bisschen Angst kommt auf. Aber da ist auch dieses Gefühl, Macht zu besitzen. Diese Straße gehört uns. Auf dem Balkon einer besetzten Wohnung schallt laute Musik an die Adresse der Besatzer: „Polizisten rauchen milde Sorte, denn das Leben ist ja hart genug…“ Gelächter. Die Bullen trauen sich nicht, das Haus zu räumen.

So muss sich der Faschismus angefühlt haben, denke ich. Normale Bürger merken plötzlich, wie sich Macht anfühlt. Wir legen die Stadt lahm, die können uns nichts, wir sind die Guten. Die Normalos, Spießbürger, Kapitalistenknechte – sie können uns alle mal. Unter dem Pflaster liegt der Stein. Der Weisen?

Aber wir sind nur eine wissende Minderheit, denke ich. Wir bewegen uns in einer Blase, glauben nur das, was unsere Dozenten, Kommilitonen und die „Führer“ auf der Demo erzählen. Später, es ist schon Nacht, wirft ein vermummter Demonstrant einen Pflasterstein in eine Schaufensterscheibe. Unter dem Pflaster liegt der Strand. Aber letztlich sind wir es, die gestrandet sind.

„Hitlerei“ gestern und heute

Faschismus ensteht nicht nur am rechten Rand der Gesellschaft, schrieb einst Wilhelm Reich, ein abtrünniger Jünger Siegmund Freuds, der den Zusammenhang zwischen autoritärer Triebunterdrückung und faschistischer Ideologie erforschte.

Foto: Ludwig Gutmann (Wikipedia)

Reich untersuchte die Gestik, die Sprache, die moralischen Paradigmen und Aktionen der „Hitlerei“ und „wies in ihnen die Verschiebung von Sexualangst zu einem Mystizismus nach, der die Freiheitsfähigkeit des Menschen in einen irrationalen Mechanismus chronischer Abhängigkeit pervertierte„.

Triebunterdrückung im Jahr 2024, während schon Kinder problemlos Pornographieseiten im Internet abrufen können, Frauen so selbstbewusst und emanzipiert wie nie zuvor sind? Durchaus. (Nicht nur) die junge Generation, ein Großteil der Gesellschaft ist prüde geworden. Die 1968 ausgerufene sexuelle Befreiung? Verpufft. Im Restaurant sitzen sich Pärchen gegenüber, stieren in ihre Handys, statt sich an die Wäsche zu gehen. Als ich in meiner Stammkneipe von einer Begegnung mit jungen Polizistinnen erzähle, denen ich „Die Polizei wird auch immer hübscher“ entgegenrief (woraufhin sie lachten), knurrt mich die Barfrau an: „Das hättest Du dir sparen können!“ Die Tür des Restaurants für eine Dame aufhalten? Das grenzt schon an Frauenfeindlichkeit. Hauptsache gendern. Wir haben ja keine anderen Probleme.

Reich glaubte 1942, auch angesichts einer antisexuellen Haltung in Sowjetrussland, dass der Faschismus nicht auf einzelne Staaten beschränkt, sondern ein Phänomen der modernen Massengesellschaft sei. Dementsprechend hielt er in seinem in den USA überarbeiteten Werk „Die Massenpsychologie des Faschismus“ dessen Überwindung nur im Zuge einer Neuregelung der Sexualökonomie der Gesellschaft für möglich. Er analysierte demografische Daten und wies nach, dass es zwischen der ökonomischen Lage und der ideologischen Verfassung eines Teils der deutschen Bevölkerung einen eklatanten Widerspruch gab: Millionen „Werktätige“ wählten bürgerliche oder »rechte« Parteien, die das proletarische Elend bestenfalls verwalten, schlimmstenfalls durch massierte Unterdrückung und Krieg potenzieren konnten„. Entgegen ihren Klasseninteressen gebe es in der „Massenbasis des Faschismus“ (…) „breite und nicht immer die schlechtesten Teile des Proletariats“, die „nach rechts“ abschwenkten. 

Ein „Proletariat“ im ursprünglichen Sinne gibt es im Jahr 2024 nicht mehr, aber eine „Massenbasis“, die sich trotz wachsender Verarmung in der bürgerliche Mitte verortet und den Politikern glaubt, dass die Freiheit durch Extremismus und Terrorismus von rechts und links bedroht ist und es eine „wehrhafte Demokratie“ braucht, um den Faschismus zu verhindern. Das ist der Weg in die Demokratur und nach meiner bescheidenen Meinung die größere Gefahr.

Um den inneren Feind zu besiegen, braucht es natürlich idealerweise einen äußeren Feind, den personifizierten Teufel, Putin eben. Dieser kleinbürgerliche Geheimdienstoffizier lieferte mit seinem „unprovozierten“, „völkerrechtswidrigen“, „aus der Zeit gefallenen“ Angriffskrieg gegen die Ukraine die nötige Munition, um die Massenbasis der „Ampelregierung“ auf harte Zeiten einzustimmen. Wir müssen den Gürtel enger schnallen, die Demokratie wird jetzt nicht nur „im Hindukusch“, sondern auch in der Ukraine verteidigt. Zu den Waffen, Schwestern. Die Mililtärexpertinnen geben sich in den Medien und bei „Markus Lanz“ die Klinke in die Hand, junge „Korrespondentinnen“ (w/m/d) erklären in der Liveschalte, warum junge Soldaten auf beiden Seiten der Front ihr Leben verlieren müssen. Für die gute Sache halt. Demokratur as its best.

Hunde sind die besseren Menschen

Beim Spaziergang mit meinem Hund „Keks“ stelle ich mir manchmal vor, Menschen würden sich wie Hunde begegnen. Erst mal beschnüffeln, vorzugsweise am Hinterteil. Bist du beischlaffähig? Mit wem hast du zuletzt gepennt? Passen deine Gene zu meinen (indem sie der Evolution folgend, möglichst unterschiedlich sind und gesunde Nachkommen versprechen)?

Natürlich ist die „Triebsublimierung“ nicht der einzige Grund, eine friedliches Europa in den Dritten Weltkrieg zu treiben. In einer Welt, in der einige wenige Multimilliardäre die Hälfte des von Milliarden moderner Arbeitssklaven erwirtschafteten Vermögens besitzen, muss Angst erzeugt werden, am besten in einer Spaßgesellschaft, in der Fußballspielende Millionäre die Götter sind und alkoholgeschwängerte Fans sie anhimmeln. Brot und Spiele waren schon immer das Rezept gegen Revolten. Aber „Angst essen Seele auf“. Es sei denn, man kann sie zum Positiven wenden. Gegen den äußeren Feind, der einfach nicht kapieren will, dass es das Monopolkapital ist, das die Welt rettet. Muss eben mal die Welt retten. Vor dem Klimawandel. Covid-19. Dem Terrorismus. Dem Antizionismus, äh…, Antisemitismus. Der sexuellen und politischen Aufklärung. Aber das sind andere Geschichten


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